Oswald Sigg in der «NZZ am Sonntag» zum Grundeinkommen

Armut produziert keine Schlagzeilen – Vor Not und unwürdiger Arbeit schützt ein bedingungsloses Grundeinkommen

An Bahnhöfen, im Hauptbahnhof Bern zum Beispiel, sieht man plastisch, wie gut und schlecht es uns in der Schweiz geht. Der Reichtum zeigt sich in den Schlagzeilen am Kiosk: «Goldküste – nirgends in der Schweiz leben mehr Reiche» oder «Schweizer Superreiche werden wieder reicher» oder «Gstaad – Im Tal der Milliardäre».

Die Armut hingegen ist direkt sichtbar, aber nicht als Gegenstand von Schlagzeilen. Draussen beim Ausgang zur Innenstadt stehen ein paar bettelnde Zeitgenossen, die die Passanten um ein «kleines Stützli» angehen. Die Umsätze sind bescheiden. Was aber auch noch Schlagzeilen macht, ist die Arbeitslosigkeit. Dazu ein aktueller Titel: «Die Schweiz hat sich von der Krise erholt – die Arbeitslosigkeit hat um 14% abgenommen.»

Aber das ist eine falsche Zahl, denn die wegen chronischer Arbeitslosigkeit Ausgesteuerten werden von der amtlichen Statistik nicht berücksichtigt. Verfügen diese Arbeitslosen über ein geringes oder kein Vermögen, so fallen sie früher oder später der öffentlichen Sozialhilfe anheim. Die sozialversicherungstechnische Ausdrucksweise zeigt, dass den Langzeitarbeitslosen der gesellschaftliche Makel öffentlicher Unterstützung angehängt wird. Jetzt sind sie doppelt bestraft: nicht nur keine Arbeit, sondern auch noch Verachtung dafür, dass sie von ihrem Anrecht auf soziale Unterstützung Gebrauch machen. Hier gibt es denn auch eine Dunkelziffer, die eine grosse und vermutlich wachsende Anzahl von Menschen betrifft: Sie nehmen ihr Recht auf soziale Hilfe und öffentliche Unterstützung gar nicht mehr wahr. Nicht nur weiss man nichts über die Gründe dieser Verweigerung – wenn es auch naheliegt, dass sie mit der Scham vor dem Gang zum Sozialamt zu tun haben –, sondern die Politik schert sich nicht um diese «Kategorie» von Menschen. Hauptsache, sie belasten das Sozialbudget nicht unnötig.

«Armut in der reichen Schweiz ist ein Tabu» und «Jede zehnte Person gilt als arm». Das wiederum sind Schlagzeilen, die nicht am Bahnhofskiosk zu finden sind. Sie liest man auf der Website von Caritas. Die entscheidenden Hinweise dafür, dass nicht einfach die Arbeitslosigkeit es ist, welche Armut produziert, sondern dass das Fehlkonstrukt in der Bedingtheit der Arbeit als materieller Existenzgrundlage liegt, liefern die Titel auf der Website des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks. Es stellt die Qualität der Arbeit in den Vordergrund: «Über eine Milliarde Menschen werden weltweit ausgebeutet» und «Es mangelt nicht an Arbeit, sondern an menschenwürdiger Arbeit.»

Menschenwürdig wird die Arbeit dann, wenn sie nicht mehr allein für den eigenen und den Lebensunterhalt der Familie getan werden muss, sondern wenn sie auch den eigenen Interessen, Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Die Voraussetzung dazu wäre eine minimale ökonomische Unabhängigkeit jedes Einzelnen.

Eine Idee geht um in Europa. Das bedingungslose Grundeinkommen. Die Schweiz kennt eine ähnliche Institution seit langem. Das Grundeinkommen für alle ist in der Form der AHV mit der Volksabstimmung vom 6. Juli 1947 für einen wachsenden Teil der Bevölkerung realisiert worden. Unter einer Bedingung allerdings: Man muss genügend Versicherungsjahre aufweisen, um monatlich einen Betrag von bis zu 2320 Franken zur freien Verfügung zu erhalten. Zum 50. Geburtstag der AHV sprach alt Bundesrat Hanspeter Tschudi im Radio von einem Generationenvertrag, von einem Solidaritätswerk zwischen Jung und Alt. Nicht von ungefähr ist es in den späten vierziger Jahren aufgebaut worden, als auch in unserem Land ältere Leute unter den wirtschaftlichen Folgen des Krieges zu leiden hatten. In der Schweiz von heute stehen immer mehr Milliardäre immer mehr Mittellosen gegenüber. Da braucht es ein Solidaritätswerk zwischen Reich und Arm: das bedingungslose Grundeinkommen.

Das wäre dann schon die Schlagzeile am Bahnhofkiosk der Zukunft.

Oswald Sigg, 1944, ist Politologe und Journalist; bis Frühling 2009 war er Sprecher des schweizerischen Bundesrats. Am 19. März spricht er auf dem Podium des Grundeinkommens-Kongress’ in Zürich.

Comments

  1. >Ich bin erfreut, erstaunt und beeindruckt, diesen konstruktiven Bericht am Sonntag in der NZZ gesehen zu haben. Das dies möglich ist mag auch damit zusammenhängen, dass ihn Oswald Sigg geschrieben hat, aber nicht nur… wir bewegen uns.

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